WER BIN ICH?

//Das Gedächtnis in der Manteltasche

"Jeder ist der, dem er nicht entrinnen kann." (Hans Kudszus) Das müssen auch die vier Protagonisten in Beate Faßnachts Stück feststellen. Sie kreisen einen Abend lang um sich selbst und die anderen, kommunizieren miteinander und aneinander vorbei. Alles ist im Fluss und treibt weiter und weiter, ohne dass jemand "Halt" schreit und sich tatsächlich kritisch unter die Lupe nimmt.

Der indische Guru Maharshi sagte einmal, dass alle Kontroversen über die Schöpfung, über das Leben und das Wesen der Dinge nutzlos seien, da sie uns nicht wahrhaft glücklich machen. Wir versuchen, Dinge zu erklären und herauszufinden, die außerhalb von uns liegen, bevor wir uns fragen, wer wir eigentlich sind, was unser Selbst, unsere Identität ist. Wer die Frage "Wer bin ich?" für sich zufriedenstellend beantworten könne, der könne dadurch auch wahres Glück erlangen.

Vom wahren Glück sind Rosi und Franz, Emi und Ernst weit entfernt. Jeder hat seine Träume, seine geheimen Vorstellungen und Welten, und jeder versucht, sich in der Welt einzurichten und zurechtzufinden. Auch wenn die Frage nach der Identität und die Suche nach ihr ständig mitschwingt, so stellt sich dennoch keiner wirklich bewusst die Frage "Wer bin ich?" und schon gar nicht "Wer sind die anderen?". Nein, stattdessen hat man lieber das Gedächtnis in die linke Manteltasche gesteckt und lässt sich treiben, darauf hoffend, Anerkennung und Wertschätzung, Identität und das Selbst werden schon noch einmal vorbeikommen.

Früher war es einfacher - das mit der Identität. Ein Bauer war ein Bauer, ein Schmied ein Schmied und ein Bürger ein Bürger. Ein jeder wurde in eine für ihn vorbestimmte Rolle hineingeboren, seine Identität lag schon maßgeschneidert bereit und er musste nur noch hineinschlüpfen. (Die radikale Vereinfachung sei an dieser Stelle erlaubt; der mittelalterliche Bauer möge es mir verzeihen, wenn er auch das ein oder andere Mal Probleme mit seiner Identitätsfindung hatte.)

Und heute? Zu welcher Gruppe fühlen wir uns zugehörig? Zu einer Nation? Zu einer Gesellschaftsschicht? Zu einem Beruf? Welche Rolle liegt für uns bereit? Wir müssen sie uns selbst schneidern, und den dazugehörigen Stoff können wir auch noch gleich selbst auswählen. Und dann? Haben wir endlich unsere Rolle gefunden, ziehen wir um, werden arbeitslos und müssen umschulen, die Mode wechselt und die zurechtgeschneiderte Identität mag nicht mehr so recht passen.

"In der postmodernen Welt gibt es keine individuelle Grundlage, der man treu bleibt oder verbunden ist. Die eigene Identität ersteht fortwährend neu, umgeformt und anders ausgerichtet, während man sich durch das Meer der ständig wechselnden Beziehungen fortbewegt. In der Frage des "Wer bin ich?" handelt es sich um eine Welt, in der es von provisorischen Möglichkeiten wimmelt" (Gergen 1996). Flexibel angepasst an verschiedene Kontexte wechseln wir die Identitäten, entwickeln eine "gemischte Identität", um in dieser Gesellschaft erfolgreich und glücklich zu leben. Maharshis Weg zum Glück würde damit obsolet. Doch es bleibt ein fader Beigeschmack. Wie viel Multiplizität und Flexibilität verträgt der postmoderne Mensch?

Unsere vier Protagonisten versuchen, ihren Platz in einer fragmentierten postmodernen Welt zu finden. Am Schluss finden sie glücklicherweise ihre Gedächtnisse in der Manteltasche wieder. Ein neuer Tag beginnt. Ob sie auf ihrem Weg einen Schritt weitergekommen sind, bleibt offen. Und so sind wir am Ende genauso klug wie zuvor.