BLICK AUF VENEDIG

//Von Günter Eich
//16. - 20. April 1999  

Die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen

"Das kleine Ungemach des Einzelnen, und so weiter, sich dienend einzuordnen, - lies es nach in zehntausend Schulaufsätzen, geschrieben in allen Sprachen. Man hat Pflichten gegenüber der Stadt, der Provinz, dem Vaterland und der Menschheit. Wo kämen wir hin, wenn Melancholie ein Grund wäre, keine Steuern zu zahlen?...Was ein Mann ist, der trinkt und vögelt, er weiß, wie man einen Whiskey kippt und hat die richtigen Maßstäbe, um die Welt nach Sperma und Nasenpopel zu ordnen. Wir wollen in die Knie sinken...Und die Vitalität anbeten...auch der Boss duldet keine Schwächlinge." (Aus: Blick auf Venedig)

"Ich kann meine Worte nicht immer mit Zitaten belegen. Da ich von der Macht und der gelenkten Sprache sprechen will und weniger davon, als dagegen, kommt es mir vor allem darauf an, dass das Ärgernis hörbar wird...Kritik/kritisch - die Vokabeln sind inflationär...In Deutschland sind nur Kümmerformen vorhanden und auch diese wenig geschätzt...Die grimmige Entschiedenheit, mit der wir Autorität anerkennen, lässt uns Kritik als Kriminaldelikt ansehen, mindestens als beklagenswerte Verirrung...Es geht um Kritik der Macht..., darum, ihrem Anspruch das Ja zu verweigern...Wenn ich hör, dass sie schon im Tierreich vorgebildet ist und eine durchgängige Erscheinung der gesellschaftlichen Ordnung...darstellt, so setze ich dem das Ressentiment eines anarchischen Instinks gegenüber:
Durch die Deklaration der Macht als eines Weltprinzips hat sich bereits eine Legitimation errichtet...Nein, mich ergreift kein freudiger Schauer angesichts der Macht...Das Verzwickte an unserer Situation ist, dass die Antworten da sind, bevor die Fragen gestellt werden, ja, dass viele...Leute meinen, da es so gute Antworten gäbe, sollte man auf die Fragen überhaupt verzichten...Diese Lebensbejahung in gelenkter Sprache...Dieser ganze fatale Optimismus, so verdächtig und erwünscht und so genau nach Maß. Augen und Ohren fest verschlossen und ein strahlendes Lächeln auf allen Gesichtern, ein Lied, drei, vier, so maschieren wir zukunftsgläubig in die tausendundeine Unfreiheit.
Es wird ernst gemacht, die perfekt funktionierende Gesellschaft herzustellen."
(Günther Eich 1959)